Wälder im Nationalpark
Urwald in den Kalkalpen

Nationalparks Austria - Teil II

Gäbe es nur ein Wort, mit dem man den Nationalpark Kalkalpen beschreiben dürfte, es wäre garantiert: Wald. Das oberösterreichische Schutzgebiet beheimatet das größte zusammenhängende Waldgebiet Österreichs. 32 Waldgesellschaften finden sich darunter und immerhin die Hälfte aller 70 in Österreich vorkommenden Baumarten. Es ist der Wald-Nationalpark der Alpen schlechthin.

(c)Erich Mayrhofer

Im ersten Teil der Schwerpunkt-Serie "Wälder im Nationalpark" haben wir erfahren, dass Wald nicht gleich Wald ist. Es gibt große Unterschiede zwischen Wirtschafts- und naturnahen Wäldern. Im Nationalpark darf der Wald so sein wie die Natur ihn vorsieht. In den Kalkalpen zeigt sich diese Veränderung bereits: Der Fichtenanteil in den Wäldern hat sich von selbst verringert, fast ganz ohne Zutun des Menschen. Naturereignisse („Störungen“) wie etwa Lawinen, Orkane oder Trockenperioden und der Borkenkäfer leisten ihren Beitrag dazu. Franz Sieghartsleitner vom Nationalpark Kalkalpen dazu: „In Wahrheit ist das effektivste Werkzeug des Naturschutzes im Nationalpark der Borkenkäfer. Er hilft der Natur sehr schnell und effizient eine natürliche Baumartenzusammensetzung wiederherzustellen, die mit den klimatischen und geologischen Gegebenheiten vor Ort korreliert.“

 

UNESCO-Weltnaturerbe: Das größte Buchenschutzgebiet der Alpen

Wo die Fichte zurückgeht, kommt die Buche nach. „Buche“ ist ein gutes Stichwort, denn sie ist im Nationalpark Kalkalpen gewissermaßen ein Superstar unter den Bäumen. Ihr wurde 2017 von der UNESCO das erste und einzige Weltnaturerbe Österreichs gesetzt. Das UNESCO-Erbe „Alte Buchenwälder“ teilt sich in Österreich auf den Nationalpark Kalkalpen und das benachbarte Wildnisgebiet Dürrenstein in Niederösterreich auf: Gemeinsam bringen die Schutzgebiete über 7.000 Hektar Buchenwälder in das Weltnaturerbe ein. Die Kalkalpen gelten mit einem Anteil von 5.250 Hektar überhaupt als das größte Buchenwaldschutzgebiet der Alpen.

 

Die Buche, ein Baum wie jeder andere? Mitnichten. Die Buche ist eine Kämpferin, zumindest „unsere“, die europäische Rotbuche. Ihr Vorkommen ist auf Europa beschränkt, ihr angestammtes Verbreitungsgebiet hat sie sich in einem 12.000 Jahre währenden Siegeszug zurückerobern müssen. Die letzte Eiszeit hat die Rotbuche an den äußersten Rand des Kontinents verdrängt, bedarf sie doch eines gemäßigten, subatlantischen bis submediterranen Klimas. Von hier aus schließlich hat sie sich wacker zurück über ganz Europa und bis hinauf nach Skandinavien gekämpft. Eine beachtliche Leistung, die kaum geschätzt wurde. Gerade einmal zwei Prozent sind von der einstigen Buchenwaldfläche in Europa übrig geblieben. Vielerorts musste die Buche der wirtschaftlich profitableren Fichte weichen. Einige wenige urpsrüngliche Buchenwaldareale aber sind von extensiver Nutzung und Verdrängung verschont geblieben. Eines davon wurzelt im Nationalpark Kalkalpen und beherbergt die nachweislich älteste Buche im Alprenraum. Sie keimte 1474 und ist damit knapp 550 Jahre alt.

 

Ein Urwald in Oberösterreich

Wo es Bäumen gelingt ein solch stolzes Alter zu erreichen, handelt es sich um jene seltenen drei-Prozent-Fleckerl Wald in Österreich, die noch als ursprünglich gelten. In keinem anderen Wald wäre ein Baum von der Hand des Menschen so lange verschont geblieben. Der Nationalpark Kalkalpen stellt mit einem Wildnisanteil von 75% seiner Fläche (siehe auch: „Naturschutz im Nationalpark") nicht nur das größte Verwilderungsgebiet der Alpen dar, er schützt auch einen der letzten Urwaldrestbestände Österreichs.

„Im Rahmen der Biotopkartierung wurden in unzugänglichen Lagen bisher acht Waldflächen entdeckt, die mit großer Wahrscheinlichkeit als Urwaldreste einzustufen sind. Es handelt sich überwiegend um Buchen- und Fichten-Tannen-Buchenwälder“

[Nationalpark Kalkalpen - Urwald]

 

Mit einem Urwald bezeichnet man Wälder, die seit ihrer Entstehung nach der letzten Eiszeit vom Menschen gänzlich verschont geblieben sind. Sie sind exakt so wie die Natur es für sie ersonnen hat, geprägt nur vom Lauf der Geschichte und dem Wandel der Zeit. Uralte Wälder aus der Zeit von Mammuts und Säbelzahntigern. Die einzelnen Bäume freilich sind keine 10.000 Jahre alt, wohl aber der Wald als System.

Im Nationalpark erleben die Wälder nunmehr ihre Stunde Null: Sie sind im Werden-zum-Urwald begriffen, denn auch auf sie wird fortan nicht mehr eingewirkt. Die Wälder bleiben einzig und allein sich selbst überlassen. In anderen Worten: Hier entstehen sekundäre Urwälder, die Nationalparks markieren ihre Geburtsstunde.

 

(c)Erich Mayrhofer

Wann wird Wald zum Urwald?

Die Wälder im Nationalpark stecken noch in ihren Kinderschuhen. Sie treten ihre Entwicklungsreise zum Urwald gerade erst an. Und diese Reise währt lange. Gemeinsam mit Biologen und Vegetationskundlern hat man im Nationalpark Kalkalpen herausgefunden, dass es bis zu 1.000 Jahre dauert, ehe ein Wald wieder Urwald ist. Ungefähr so lange dauert es bis man absolut keine Spuren menschlichen Eingriffs mehr erkennen kann.

 

„Wir sind ein Entwicklungsnationalpark: Vegetationskundler sagen uns, dass es Jahrhunderte dauern wird bis sich der einst genutzte Wald wieder als ursprünglich präsentiert. Die ursprüngliche Artenvielfalt wird er aber sehr wahrscheinlich nie mehr erreichen. Umso dringlicher ist daher der Schutz der letzten Primärwälder Österreichs!“

(Franz Sieghartsleitner, Nationalpark Kalkalpen)

 

Mit geschärftem Auge erkennt man einen Urwald. Vom Keimling bis zum Greis findet man dort verschieden alte Bäume. In einem Wirtschaftswald undenkbar. Hier werden Bäume weit vor Ablauf ihres natürlichen Lebensalters entnommen, jede Generation an neubestocktem Wald teilt dasselbe Geburts- und Todesdatum. Im Urwald hingegen gibt es ein buntes Durcheinander aller nur erdenklichen Altersklassen. Und es gibt auch: jede Menge tote Bäume. Abgesplitterte Baumstrünke, von Pilzen zersetzte Holzkadaver, verkeiltes Sturmholz. Baumleichen entfesseln im Menschen eine morbide Faszination, zu tief sitzt oft der vertraute Eindruck des geordneten Walds im aufgeräumten Forst.

 

Der tote Baum gehört zum Leben

Totholz klingt vielleicht nach „vernachlässigbar“. Tatsächlich gibt es in einem Wald wenig wertvolleres. Sein Anteil liegt in ursprünglichen Wäldern bei immerhin 30%. Totholz ist nicht nur vom Vergehen gezeichnet, sondern gleichermaßen vom Entstehen. Auf toten Stämmen wachsen neue Baumgenerationen heran, durch den erhöhten Standort bereits von einem Startvorteil profitierend. Gleichzeitig zersetzen Pilze, Insekten und Mikroorganismen die Kinderstube der Keimlinge zu fruchtbarem Humus. Totholz wird so nicht nur zur neuen Heimat seiner Artgenossen, es erschließt auch Lebensräume für andere Waldbewohner. Geschätzte 35% aller im Wald lebenden Pflanzen, Pilze und Tiere sind irgendwann in ihrem Lebenszyklus auf Totholz angewiesen. Bei Urwald-Relikarten hängt gar ihr gesamtes Leben am Vorkommen von Totholz. Dazu zählen beispielsweise der Weißenrückenspecht, der Alpenbock- und der Drachenkäfer.

 

Bedrohte Käfer, seltene Vögel: Totes Holz und neues Leben

Im Nationalpark Kalkalpen gibt es diese „xylobionten“ („totholzbewohnenden“) Urwaldreliktarten noch, insbesondere: Käfer. Von 40 xylobionten Urwaldkäfern weiß man in den Kalkalpen, mit dieser Zahl können europaweit nur noch die Karpaten konkurrieren. Totholz ist aber auch Schmetterlingen und Fledermäusen eine Heimat. In den Kalkalpen sind es konkret 1.560 Schmetterlings- und 17 Fledermausarten. In seinem letzten Entwicklungsstadium stößt der Baum im Tode noch einmal ein Füllhorn an neuem Leben in den Wald hinaus. Ein weiterer gefährdeter Waldbewohner ist vom Totholz abhängig, der Weißrückenspecht, einer der seltensten Vögel Europas. Seine Nahrung: Insektenlarven, deren Lebensraum im Totholz alter Laubbäume sitzt. Und davon gibt es nicht mehr viel: selten Totholz, noch seltener Totholz eines alten Baums und am seltensten Totholz eines alten Laubbaums. Für die Übersetzung von Holz in einen wirtschaftlichen Nutzen ist Totholz schlicht überflüssiges Beiprodukt und ein alter Baum eine entbehrliche Geduldsprobe. Der Mensch zeichnet verantwortlich für den weitgehenden Mangel an Totholz und alten Bäumen in Forsten. Im Nationalpark Kalkalpen ist das anders. Hier findet man österreichweit die höchste Dichte an Weißrückenspechten, den wohl stichhaltigsten Indikator für einen gesunden naturnahen Wald mit alten Bäumen und viel Totholz. Hier trifft man auf einen Wald im Normalzustand, der nur dem getrübten, weil entwöhnten Blick des Menschen irgendwie seltsam erscheinen mag.

 

Käfer, Spinnen, Larven, Vögel. Waldbewohner wie diese mögen einigen Menschen als unscheinbar, unwichtig, schwerfällig, vielleicht sogar ekelerregend erscheinen. Aber auch sie erfüllen eine wichtige Funktion, weit über die Einflusssphäre biologieverliebter Naturschützer hinaus. Die unzähligen Insektenbewohner von Totholz speisen größere Tiere, darunter besonders Vögel und Fledermäuse, aber auch Fuchs, Dachs und Siebenschläfer. Es geht nicht um diese oder jene einzelne Art, um den einen vom Aussterben bedrohten Käfer oder Vogel. Es geht um das gesamte Konvolut und seine einzelnen Bestandteile, die auf feingliedrigste Art voneinander abhängig und miteinander verwoben sind. Es ist der Stoff, aus dem das Ökosystem Naturwald gestrickt ist: Ein Organismus, belebt aus dem Zusammenspiel unzähliger, voneinander abhängiger Arten. Totholz ist eines dieser Bestandteile. Es wird im Zweifel eben nicht nur dieser eine tote Baum entfernt, sondern ein ganzer Artenkatalog. Wo der Wald ohne Einwirkung des Menschen sein darf, ganz ohne Regeln, Ordnung und Plan, da wird man Totholz finden. In den Wäldern der Nationalparks wird man es sehen - und als Indikator für Wildnis erkennen. Wildnis, die hoffentlich irgendwann auch wieder Urwald ist.

 

Text: Nationalparks Austria, Christina Geyer

 

Mit Unterstützung von Bund und Europäischer Union.

Buchenwald im Nationalpark Kalkalpen
(c)Sieghartsleitner

NATIONALPARK KALKALPEN AUF EINEN BLICK

Lage: Oberösterreich, Oberösterreichische Voralpen

-> Sengsengebirge & Reichraminger Hintergebirge

Errichtet: 1997

Größe: 20.850 Hektar

-> Zweitgrößter Nationalpark Österreichs

Seehöhe: von 385 m bis 1.963 m

-> Höchster Punkt: Hoher Nock

 

Zonierung: 89% Naturzone / 11% Bewahrungszone

-> 81% Wald

-> 8% Latschen

-> 6% Almen und Wiesen

-> 5% Fels und Schutt

Besonderheit: Wald-Nationalpark, UNESCO-Weltnaturerbe Buchenwälder

 
 

Gefördert durch Bund sowie Europäischer Union.

Partner aus der Wirtschaft im Zuge der Kampagne #gemeinsamverändern:

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