Flechtenreich
Thayatal

Thayatal

Eine Pilotstudio zur Flechtendiversität im grenzübergreifenden Nationalpark Thayatal/ Podyjí belegt die außerordentliche Vielfalt dieser Organismengruppe im Naturschutzgebiet.

Eine gelbe Flechte wächst über einen Stein, ihre Struktur ähnelt der des Steines
(c) NP Thayatal

Caloplaca aurantia

Eine grüne Flechte wächst kugelförmig
(c) NP Thaytal

Cladonia convoluta

Eine weiße Flechte mit Maserung
(c) Franz Berger

Phlyctis agelaea

Eine grüne Flechte, gemustert wie ein Schildkrötenpanzer
(c) NP Thayatal

Fuscidea cyathoides

Cladonia convoluta
Sie sind nicht flauschig, haben keine großen Augen, haben genauer gesagt gar keine Augen und auch sonst wenig mit dem Menschen gemeinsam. In entsprechend engen Grenzen hält sich auch die Sympathie für eine besondere Organismengruppe, der eine Pilotstudie im Nationalpar Thayatal gewidmet ist: die Flechten.
Ihre biologische Fähigkeit, als Pilze eine Symbiose mit Algen einzugehen, ist uralt und hat sich in der Evolution bei der Eroberung besonders extremer Lebensräume bewährt. Diese artenreichen Organismen wurden so gut wie vollständig aus den Lehrplänen der Schulen verbannt. Damit wurde die Wissensweitergabe um diese sowohl ästhetisch wie physiologisch so interessanten Lebensformen hochoffiziell zu Grabe getragen. Immer weniger werden dadurch auch die Expert:innen, die sich damit auskennen, zumindest im deutschsprachigen Raum. 2022 wurde eine grenzübergreifende Pilotforschung im Nationalpark Thayatal/ Podyjí durchgeführt um das Standortpotential für Flechten zu erheben.

Phlyctis agelaea
Die Kontinuität der ungestörten Lebensbedingungen im Nationalpark Thayatal macht ihn zu einem Brennpunkt des Artenreichtums. Je länger eine Störung unterbleibt - wir denken an Jahrhunderte - desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass sich auch seltene Arten einfinden. So auch im Nationalpark Thayatal, dessen Störungsarmut eine Folge der rigorosen Grenzziehung des Eisernen Vorhanges ist.
Die Naturausstattung im Nationalpark endet nicht bei den Sympathieträgern Wildkatze, Fischotter oder Schwarzstorch, sondern beherbergt eine meist übersehene Fülle seltener Pflanzen und auch die Nicht-Blütenpflanzen, also Arten die sich durch Sporen fortpflanzen, z. B. Moose, Farne und vor allem Pilze. Eine besonders interessante Gruppe, die unter den Pilzen eine biologische Sonderstellung einnimmt, sind ebenjene Flechten.

Lecanactis dilleniana
Während auf der tschechischen Seite bis zum Jahr 2000 bereits über 500 Arten nachgewiesen waren, hinkte die Erforschung im österreichischen Anteil des Nationalparks hinterher. Ein Team aus österreichischen und tschechischen Forschern (Franz Berger, Jan Vondrák, Jiří Malíček, Zdeněk Palice) verbrachte im Zuge der Forschungstätigkeit für die Pilotstudie 29 Tage im Gelände. An insgesamt 21 Lokalitäten und 185 Entnahmeplätzen konnten am Ende 618 Arten erfasst werden. Aus den Forschungsarbeiten geht eindeutig hervor, dass der Nationalpark Podyjí / Thayatal zu einem der flechtenreichsten Gebiete Mitteleuropas und wahrscheinlich sogar ganz Europas gehört. Von den 618 erfassten Arten, stehen insgesamt 166 Arten auf der Roten Liste der Tschechischen Republik. Davon galten fünf Arten bislang als verschollen. Diese Zahlen kontrastieren augenfällig mit den Flechtenwüsten der unmittelbar anschließenden Agrarlandschaft, wo auf 100 km² mit Mühe um die 50 Arten zu finden sind.
Da es sich hierbei nur um eine Pilotstudie handelt sind die Ergebnisse unvollständig und nicht das gesamte Gebiet repräsentieren können. Dennoch gibt sie einen sehr guten Einblick in die einzigartige Pflanzenwelt des Thayatals. Man geht davon aus, dass selbst auf den bisher erforschten Gebieten weitaus mehr Arten beheimatet sind, als gedacht. Das Forschungspotential ist also noch lange nicht erschöpft. Grenzüberschreitende Forschungsarbeit kann hier einen großartigen Beitrag leisten.

Bunte Flechten in einem wilden Muster
(c) Bernd Schlag

Krustenflechte

Verschiedenfarbene Flechten auf einem Stein
(c) NP Thayatal

Lecanactis dilleniana

Grüne Flechten auf einem Stein
(c) NP Thayatal

Melanelia grablatula

Eine graue Flechte sieht aus, als würde sich der Frost über den Stein ziehen
(c) NP Thayatal

Pertusaria amara

Melanelia grablatula
Warum hat der Nationalpark Thayatal-Podyjí eine so extrem reiche Artenausstattung? Das stark mäandrierende, so romantische, eingetiefte, bewaldete Flusstal bietet eine große Vielfalt von geomorphologisch verschiedensten Kleinlebensräumen, man denke an Blockhalden, Felstürme, klammartige Flussabschnitte, Gräben, Eislöcher, sonnendurchglühte Felssteppen, Niederwälder, Trockenrasen usw. Sie alle zeigen jeweils eine andere Artenzusammensetzung, wobei den Flechten als ständig sichtbaren, ortsständigen Organismen eine besonders aussagekräftige Zeigerfunktion über die jeweiligen Standortbedingungen zukommt. Diese sind wiederum für alle anderen dort vorkommenden Lebewesen von Belang. Die mikroklimatische Vielfalt wird verstärkt durch eine bunte geologische Vielfalt, sichtbar an den innerhalb weniger Zentimeter wechselnden Flechtengesellschaften, die den Gesteinschemismus exakt nachzeichnen. Dazu führt das kleinräumige Nebeneinander von Orten mit unterschiedlichem Feuchtigkeitsangebot zu vielen mikroklimatisch differenzierten Nischen, was sich wiederum im Artenspektrum niederschlägt.

Pertusaria amara
Die Klimaerwärmung und die sich reduzierenden Niederschläge, Überdüngung der Atmosphäre, Chemieeinsatz in der Agrarindustrie, Bodenversiegelung, Ausräumung von Kleinstrukturen aus der Agrarlandschaft haben zu einem dramatischen Schwund an Kleinlebensräumen und damit auch von vielen Flechtenarten geführt, wie uns der niederösterreichische Flechtenatlas eindrücklich vor Augen führt. Große Augen machen wir Forschenden beim Anblick von im 19. Jh. herbarisierten Flechtenbelegen, sowohl was ihre prächtige Entwicklung als auch die inzwischen verschwundenen Standorte betrifft. Schon ein einmaliger Umbruch des Lebensraumes, z.B. ein Kahlschlag, bringt viele Organismen zum Verschwinden. Die in einem Nationalpark gegebene Stabilität der Lebensräume ist Garant für den Erhalt seiner Vielfalt.

 

Text: Flechtenforscher Dr. Franz Berger & Nationalparks Austria

 
 

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