Expedition
Artenvielfalt
Man kann Lebensräume nur schützen, wenn man sie genau kennt. Deshalb hat der Nationalpark Hohe Tauern damit begonnen, in drei weitgehend unberührten Tälern die Pflanzengesellschaften exakt zu erheben. Vegetationskartierung heißt der Fachbegriff dafür.
Auf den ersten Blick passen die Begriffe gar nicht zusammen: wilde, hochalpine Naturlandschaften und die buchhalterische Genauigkeit, die für eine Inventur notwendig ist. Doch das täuscht: Um exakt zu wissen, welche Pflanzen und Tiere, welche Lebensräume und Biotope in einem Gebiet zu finden sind, braucht es Expertise, Erfahrung und vor allem akribische Genauigkeit. In diesem Sommer waren im Nationalpark Hohe Tauern – im Innergschlöß in Tirol, im Wildnisgebiet Sulzbachtäler in Salzburg und im Seebachtal in Kärnten – Botaniker unterwegs, um diese Inventur im Pflanzenreich vorzunehmen. In diesen Tälern laufen die natürlichen Prozesse weitgehend unbeeinflusst vom Menschen ab, sie sind unberührte Natur im besten Sinn. „Wir wollen genau wissen, welche Biotoptypen und Pflanzengesellschaften wo vorkommen“, begründet Hermann Stotter, turnusmäßiger Vorsitzender des Nationalparkdirektoriums, warum das Schutzgebiet diese Vegetationskartierung in Auftrag gegeben hat. Damit schaffe man eine präzise Datengrundlage, die auch im Hinblick auf das in den drei Gebieten vor drei Jahren begonnene Langzeitmonitoring wichtig sei. Gerade in Zeiten, in denen sich Lebensräume beispielsweise durch den Klimawandel verändern, sei es notwendig, den Istzustand genau zu kennen, um später Vergleiche anstellen zu können.
Mit dem Luftbild ins Gelände
Bei einer Vegetationskartierung gehen die Botaniker mit sehr detaillierten Luftbildaufnahmen des zu untersuchenden Gebietes ins Gelände. „Im Freiland schauen wir uns an, welche Pflanzengesellschaften in dem Gebiet sind und grenzen die einzelnen Lebensräume auf der Karte ab“, erläutert der Botaniker Oliver Stöhr, der im Auftrag des Nationalparks die Kartierung mit seinem Team durchführt. Je nachdem, wo man gerade unterwegs ist, werden unterschiedliche Lebensräume wie Grünerlengebüsche, Hochgebirgsrasen, Moore, Quellfluren, Schwemmländer, Zwergstrauchheiden oder Gletschervorfelder in den Karten exakt verortet und die dafür typischen Pflanzengesellschaften genauestens dokumentiert. Die dabei entstehen-den Vegetationskarten sind nicht nur für die Forschung interessant. Sie sind auch für das Naturraummanagement, für die Dokumentation des Zustands von geschützten Lebensräumen – gerade auch in Natura-2000-Gebieten – oder Behördenverfahren eine wichtige Grundlage. Zu wissen, welche Artengemeinschaften in einem Lebens-raum vorkommen und wie sich diese im Lauf der Zeit durch natürliche Prozesse auch verändern, ist Basis für den Schutz dieser wertvollen Ökosysteme. Ab Anfang Juli waren die Botaniker in diesem Sommer unterwegs, um die Flächen zu untersuchen. Sie verwenden aktuelle, hochauflösende Luftbilder im Maßstab 1:5.000 als Basis. „Wir müssen die kurze Vegetationszeit im Hoch-gebirge nutzen und deshalb sehr effizient arbeiten“, sagt Stöhr. Schließlich kommen die drei zu untersuchenden Gebiete auf rund 160 Quadratkilometer – immerhin knapp ein Zehntel der gesamten Schutzgebietsfläche. „Wir haben – wie erwartet – ein sehr breites Spektrum von Biotoptypen gefunden. Die Lebensräume sind in einem guten Zustand“, bilanziert der Experte: alpine Rasen, Zwergstrauchheiden, Grünerlengebüsche, Bergwälder, Bachläufe, Moore, Tümpel oder Gletschervorfelder. Letztere sind für die Botaniker besonders interessant. Was passiert mit den neuen eisfreien Flächen? Welche Biotoptypen, welche Pflanzengesellschaften entstehen?
Pioniere der Vegetationskartierung
Die Spezialisten, die heute im Gebiet des Nationalparks die Vegetation kartieren, sind nicht die ersten. Sie können auf der Arbeit von Generationen von Forschern aufbauen. Die Hohen Tauern – besonders das Gebiet rund um den Großglockner – war schon im 18. Jahrhundert Ziel von pflanzenkundlichen Expeditionen. Die Versuche, erstmals den Gipfel des höchsten Bergs Österreichs zu besteigen, waren nicht nur ein alpinistisches, sondern vor allem auch ein wissenschaftliches Abenteuer. Der Regensburger Botaniker David Heinrich Hoppe war bei der 1799 schließlich erfolgreichen Erstbesteigung des Großglockners dabei und dokumentierte akribisch die Pflanzen entlang des Auf- und Abstiegs. Sehr zum Ärger anderer Teilnehmer, die auf die Botaniker immer wieder warten mussten, weil sie irgendwo wieder eine Pflanze entdeckten und bestimmten. Vier Jahrzehnte lang kam Hoppe jedes Jahr für mehrere Wochen nach Heiligenblut, für ihn war es ein botanisches Paradies und voller Wunder. Er war auch der Erste, der die Gams-grube bei der Pasterze untersuchte und dort unter anderem das Alpen-Breitschötchen Braya alpina nachwies – ein Endemit in den Hohen Tauern. Hoppes populäre Publikationen lockten Wissenschaftler aus ganz Europa in die Hohen Tauern. Auch die erste Vegetationskartierung im heutigen Sinn entstand rund um den Großglockner: Helmut Friedel erfasste in den Jahren von 1933 bis 1937 auf einer Karte im Maßstab 1:2.500 das Pasterzengebiet. Für einzelne Probeflächen zeichnete er jeden Baum, jeden Alpen-rosenstrauch und jede Moosfläche ein. Er ordnete die Pflanzengesellschaften auch Höhenstufen und Geländeformen zu und bildete damit die Komplexität der Lebensräume ab. Friedel habe „die weitaus detaillierteste Darstellung der Pflanzenverbreitung in einer größeren Hochgebirgslandschaft gegeben, die bisher nicht nur aus den Alpen, sondern von der ganzen Erde vorliegt“, schrieb Friedels Lehrer Helmut Gams über die Arbeit seines wissenschaftlichen Schülers.
Während die Pioniere der Vegetationskartierung alles mit der Hand zeichneten, Herbarien anlegten und einfache Karten verwendeten, bedienen sich die Botaniker heute moderner Geoinformationssysteme und hochauflösender Luftbilder, um die Karten zu erstellen. „Wir können heute einzelne Gebiete auf den Meter genau abgrenzen“, erläutert Stöhr. Die Karten und die Auflistungen von Lebensraumtypen sind heute ebenso digital verfügbar wie die Dokumentation der vorkommenden Pflanzengesellschaften. Sie machen damit wertvolles botanisches Wissen auf Knopfdruck verfügbar. Die Methoden haben sich geändert, die Faszination für den Artenreichtum in den Hohen Tauern ist die gleiche geblieben.
Text: Claudia Lagler, Oktober 2020
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